Eine amerikanische Reise

Ich erreichte Seattle in den Morgenstunden. Eine zweitägige Bahnfahrt von Los Angeles aus quer an der Westküste entlang, ließ mich mit nachhaltigen Eindrücken am Bahngleis zurück. Gewaltige Landschaften und atemberaubende Naturschauspiele hatten sich in den letzten Tagen in meinem Kopf eingebrannt. Eigentlich müsste ich jetzt erst mal ein paar Tage entspannen und das alles sacken lassen. Aber hierfür war keine Zeit, denn ich hatte ein Ziel: Am Abend wird Scratch Acid – eine Band welche die Entwicklung des Grunge und damit Nirvanas Erbe in den achtziger Jahren vorweggenommen hatten - ein letztes Reunion Konzert geben.

Meine erste Anlaufstation war demnach: eine Unterkunft für die Nacht auftreiben. Ich suchte mir im Lonely Planet Reiseführer ein Hostel meiner Wahl, nur um bei meiner Ankunft nüchtern feststellen zu müssen, dass alle Schlafsäle ausgebucht waren. Ich zog weiter, aber auch die beiden anderen Hostels waren nach Auskunft der jeweiligen Rezeptionisten auf absehbare Zeit voll belegt. Meine Planung, nichts zu planen, war wieder einmal nicht aufgegagnen. Es bedeutete, dass ich für die Nacht ohne Unterkunft bleiben würde, denn meine Reisekasse ließ eine (erneute) Hotelbuchung für rund 150$ unter keinen Umständen zu und alternative Buchungsplattformen wie Airbnb gab es damals noch nicht.

Nun gut, dachte ich mir. Dann ist jetzt nichts naheliegender als die Dinge abzukürzen. Kurzerhand entschloss ich mich, direkt in das Nachtleben Seattles einzutauchen. Ich informierte eine Bekannte die ich erst Wochen zuvor in Chicago kennengelernt hatte per E-Mail, dass ich in Seattle sei. Desweiteren erklärte ich ihr, dass ich heute Abend an dem besagten Konzert anzutreffen sein würde. Dann machte ich mich auf den Weg. Gegen Mittag beglückte ich meine trockene Kehle und ließ im Gegenzug die ersten Dollars über die Theken fließen. Ein Sierra Nevada hier, ein Budweiser dort, Billiard bei einem kühlen Heineken woanders – die prekäre Wohnsituation war urplötzlich vergessen. Begünstigt auch durch Mike, einen Mittvierziger den ich gegen Mittag vor der Venue kennengelernt hatte und der mir nach einigen Kneipen anbot, meinen Reiserucksack bei ihm zu verwahren. Ich scheute kein Risiko, nahm dankend an und begab mich Richtung Konzerthaus.

Dort angekommen hatte ich schon ordentlich einen sitzen. Der Laden füllte sich schnell – die Stimmung war aufgerieben. Punk und Grunge lagen in der Luft und es war abzusehen, dass in den vorderen Reihen dem ein oder andere Ellenbogen nicht auszuweichen sein würde. Natürlich wollte ich bei diesem einmaligen Ereignis in erster Reihe mit dabei sein und so traf ich als Brillenträger die angetrunkene Entscheidung, meine Sehhilfe sicherheitshalber lieber in der Hostentasche aufzubewahren. Das, so meine feucht-fröhliche Schlussfolgerung, sei besser als sie mir später von der Nase prügeln zu lassen. Mächtig stolz über meine vorausschauende Geistesgegenwart krämpelte ich die Ärmel hoch, während der erste Bass-getränkte Riff die Halle betäubte.

Die Entscheidung erwies sich als folgenreich, denn obwohl ich sturzbesoffen schwerste Hiebe einstecken konnte, war die Stimmung gegen Konzertende betrübt: Die Brille befand sich nach all dem Chaos natürlich nicht mehr in meiner Hosentasche. Sie musste sich irgendwo auf dem 1800 Seelen fassenden Esstrich bequemt haben und so krabbelte ich nach Konzertende 15 Minuten zwischen Plastikbechern, Bier- und Kotzpfützen auf allen Vieren den Venue-Boden ab. Die dunkle Halle leerte sich und ich musste bei den restlichen Beteiligten einen verwirrten Eindruck hinterlassen haben. Ein Security Guy nahm sich mir an und erlöste mich meines armseligen Anblicks. Ich wurde an die frische Luft escortiert.

Da stand ich nun sturzbesoffen, von Hieben gezeichnet aber dafür mit leeren Händen: ohne Brille, ohne Reiserucksack und ohne Unterkunft. Ich bereute natürlich nichts und meine Gedanken übten sich in einem heiteren Fatalismus. Dennoch dünkte es mir bereits jetzt, dass es für meine Reiseplanung im Nachhinein definitiv Abzüge in der B-Note geben würde. Egal, dachte ich. Denn die Frage die mir bereits mit den ersten Atemzügen im Freien durch den Kopf schoss: „Wo genau wohnte noch mal dieser Mike?“ In einer mir unbekannten Stadt, mit -3,0 Dioptrie sowie 2,0 Promille gestaltete es sich zu einem schier unmöglichen Unterfangen, das Appartment dieses Typen ausfindig zu machen.

Aber es half ja nichts, irgendwas musste ich tun. Zeit für reinen Aktionismus hatte ich ohne Ende – was anderes bliebt mir auch nicht übrig. So rannte ich panisch einige Male um denselben Häuserblock um plötzlich zu realisieren: an dieser Ecke wohnt Mike! Ich konnte mein Glück kaum fassen und stürzte in das Appartmentbuilding, wo ich jedoch von dem betagten Pförtner wortgewaltig zurückgehalten wurde: „No way, ya ain’t goin up there!“. ich insistierete schwankend und konnte ihn nach einigem Lavieren lallend davon überzeugen, Mike telefonisch zu kontaktieren. Widerspenstig griff der alte Mann zum Hörer und Mike erschien wenig später tatsächlich mit meinen Besitztümern. Ich fiel ihm erleichtert um den Hals. Ich hatte mehr Glück als Verstand und der Abend war trotz aller Widrigkeiten gerettet.

Überglücklich stolzierte ich vermöbelt und sehbehindert in Richtung Hauptbahnhof. Da plötzlich entnahm ich aus der Ferne eine Stimme die meinen Namen rief. Ich drehte mich um, konnte jedoch niemanden sehen und lief weiter. Kurzerhand fiel mein Name erneut. Ich drehte mich erneut um und da stand Starla, die Bekannte aus Chicago! Sie hatte meine E-Mail gelesen und war nach Konzertende mit dem Fahrrad an der Venue vorbei gefahren, nur um mich hier unweit des Hauptbahnhofs zufällig abfangen zu können.

Ich konnte mein Glück nicht fassen! Wir packten meine Sachen und sie brachte mich zu ihr nach Hause. Jetzt erst merkte ich wie erschöpft ich nach diesem unglaublichen Abend war. Starla liess mich für über eine Woche bei ihr unterkommen und war zugleich eine unglaublich coole Gastgeberin. Gemeinsam mit ihren Freunden zeigte sie mir Seattle und ich verbrachte eine tolle Zeit in einer aufregenden Stadt! Schnell war ich auch im Besitz einer neuen Brille - diese erhält man in den USA auf Wunsch und gegen Aufpreis binnen 24 Stunden – und hatte somit wieder den vollen Durchblick.

Nach etwa einer Woche besuchten wir gemeinsam eine Bar in der auch einige Ihrer Freunde anzutreffen waren. Ich unterhielt mich angeregt mit ihrem Bekannten Steven und erzählte ihm von meinem Trip, von der Reise über die West Coast und dem krassen Konzert-Abend. Steven unterbricht mich und schaut mich etwas grinsend an „da war ich auch!“. „Welch ein Zufall“, erwidere ich, und führe aus, dass das Konzert wahnsinnig gut war, ich aber leider meine Brille verloren hätte.

Wieder unterbricht mich Steven.. „Du hast Deine Brille verloren? Was denn für eine Brille?“.. ich beschrieb das Gestell: „halbrund-abschliessend mit weißen Bügeln in einem grauen Etui“. Stevens Augen werden größer und mit stoischer Ruhe erwidert er: „Die Brille hab ich in der Konzerthalle auf dem Boden gefunden, ich kann sie Dir morgen vorbei bringen“.


Lade Dir die kostenlose Geheimness-App für dein Smartphone und kommentiere den Beitrag!


Beitrag