Der Andere

Ich kenne Manuel seit 6 Jahren, liebe ihn über alles und will ihn auch heiraten. Vor 10 Monaten lernte ich allerdings meinen Nachbarn, Hilmar, kennen. Er kam öfters zu mir, wir haben uns nett unterhalten, Filme untereinander getauscht und einfach eine gute Nachbarschaft gepflegt.

Plötzlich war er weg, ein anderer Mann lebte in seiner Wohnung, aber Hilmars Name stand noch an der Klingel. Ständig ging meine Klingel und irgendwelche Fremden wollten in Hilmars Wohnung. Ich bin irgendwann ausgerastet, habe den Typen angebrüllt, ob er seinen Leuten nicht erklären könnte, welches die richtige Klingel sei, oder ob sie nicht lesen könnten.

Dann öffnete eines Tages Hilmar wieder die Tür. Ich erkannte ihn nicht auf Anhieb, er war dünner geworden, seine Haut war gelblich. Erst, als er sprach, wusste ich, wer da vor mir stand. Ich war etwas erschrocken. Wir redeten stundenlang... er war ca 7 Wochen wegen Lungenkrebs und einem Leberschaden im Krankenhaus gewesen und hatte nun ein Krankenbett in seinem Wohnzimmer.

Oft rief er an, dass er bei irgendetwas Hilfe brauchte. Ich half ihm gern, da er ein ruhiger und sehr angenehmer Mensch war.

Irgendwann begann er, mir Kosenamen zu geben, bot mir an, mich in sein Bett zu legen, er würde gern mit mir kuscheln. Ich hatte es noch nicht bemerkt, aber er hatte sich in mich verliebt. Dann kam er wieder ins Krankenhaus, bat mich hin und wieder, ihn zu besuchen - mal mit der Bitte um frische Kleidung, mal einfach so.

Dann bemerkte ich, dass er innerhalb von wenigen Minuten "Liebste" und "Mäuschen" zu mir gesagt hatte. Ich habe ihn darauf angesprochen und er hat bestätigt, dass er sich verliebt hatte. Ich wusste damals schon, dass seine Zeit schon fast am Ende war... deshalb mochte ich ihm diese Gefühle nicht verbieten.

Ich erzählte ihm allerdings ganz streng, dass ich Manuel deshalb nicht verlassen könnte. Also habe ich ihm alles gegeben, was ich konnte: Zärtlichkeit, Küsse, Nähe und Zeit. Auch wenn es nur wenig Zeit war. Seine neue Unterkunft war dann ein Heim, in dem ich ihm besuchen durfte.

Er hat mir Fotos von sich gesendet, auf denen er weinte, hat mir Lieder geschickt, die seine Gefühle zum Ausdruck brachten... Ich habe ihm versprochen, immer für ihn da zu sein... dann musste er wieder ins Krankenhaus... es wurde immer schlimmer mit ihm, er hat kaum noch Luft bekommen. Ich bin von da an täglich zu ihm gefahren, wenigstens für 1-2 Stunden.

Die Schwestern und die Ärztin haben die überzogene Zeit geduldet. Dann kam der schlimmste Tag. Die Ärztin hat mich angerufen, ich solle besser hin kommen. Um 13:30 Uhr war ich dort, habe Hilmar geküsst und ihm alles ermöglicht, was er wollte. Er hat bedauert, dass wir uns nicht schon 10 Jahre früher leben gelernt haben. Er hat auch gefragt, ob ich ihn geheiratet hätte. Was ich ihm verschwiegen habe, war die Tatsache, dass ich ihn spontan noch an diesem Tag geheiratet hätte, wenn Manuel nicht gewesen wäre.

An diesem Abend ist Hilmar in meinem Arm gestorben. Ich liebe ihn noch immer, vermisse ihn immer wieder und hoffe, ihn eines Tages in der Welt nach dem Tod zu treffen. Ich könnte heulen, dass ich seine Andeutungen nicht schon eher begriffen habe. Ich vermisse seine Hände, sein Lächeln und seine Liebe.

Und gleichzeitig liebe ich Manuel, der so ganz anders ist. Ich bin stolz darauf, wie sehr Manuel mich bewundert und mich immer wieder erregt. Ich liebe seine vorsichtige Art, die mich auf ein Podest stellt. Aber Hilmar, der eine wunderbare innere Stärke hatte, war mir ebenso wichtig.

Es tat weh, Manuel emotional zu betrügen, auch wenn körperlich nie etwas zwischen Hilmar und mir war. Aber ihn von mir zu stoßen, das konnte und wollte ich auch nicht...


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