Meine Zähne verfaulen

Seit ich klein war habe ich massive Angst vor dem Zahnarzt. Meine Brüder fanden das immer lustig und haben mich deswegen gehänselt. Als ich neun war haben Sie mich mehr oder weniger genötigt den Horrofilm „The Dentist“ zu schauen. Sie fanden das witzig, aber für mich ist es eine Katastrophe aus der ich bis heute keinen Ausweg sehe. Ich habe seit diesem Tag eine absolute Zahnarzt Neurose und weigere mich auch nur eine Praxis aufzusuchen.

Wenn ich die Neurose in einem Satz beschreiben müsste: Ich habe panische Angst davor, meine Zähne, die wenige Zentimeter von meinem Gehirn, meinen Augen oder meinem Riechorgan entfernt liegen, mit so brachialer Gewalt wie jener eines Bohrers behandeln zu lassen. Alleine der Gedanke hieran macht mich schwindelig. Ich sitze während ich diese Zeilen schreibe und kann mich nur schwer konzentrieren. Ich bin 28 Jahre alt und meine Zähne verfaulen.

Ich putze die Zähne mittlerweile regelmäßig und habe aufgehört zu rauchen, aber es ist mehr oder weniger zu spät. Ich bin in psychologischer Behandlung und habe in der Vergangenheit Selbsthilfegruppen besucht. Ich versuche derzeit alles und habe trotzdem das Gefühl, ich drehe mich im Kreis.

Meine Zähne bestimmen in jeder Hinsicht mein Leben, denn meine Freundin hat mich vor zwei Jahren verlassen. Sie liebte mich und wollte mir helfen, aber ich habe bis heute keinen Weg gefunden meine Neurose zu überwinden. Sie hat mir irgendwann eine klare Ansage gemacht: „Du stinkst so schlimm aus dem Maul, dass man dich zwei Meter gegen den Wind riechen kann und meint man stünde in einem Schweinestall“. Kurz darauf ist sie in Tränen ausgebrochen. Sie wollte mich nicht verletzen, sie war verzweifelt. Sie hatte die Hoffnung, dass ich mich irgendwie befreien könnte. Für Sie, für mich und für unsere Beziehung.

Mittlerweile lebe ich relativ isoliert. Der Kontakt zu meiner Ex-Freundin ist abgebrochen. Ich verlasse das Haus nicht mehr ohne hochkonzentrierte Zahnspülung. Die Zahnspülung hilft mir kurzfristig, den Geruch zu verdecken. Das ganze schlägt aber mittlerweile auf den Magen, mein Hausarzt warnt gar vor einem Magengeschwür. Es muss sich also etwas ändern. Ich weiss, ich werde die Neurose nicht so schnell los, das ist auch die Prognose meines Psychologen. Ich muss „kleine Brötchen backen“, sagt er. Und dennoch: eine realistische Möglichkeit bestünde in einer kompletten Restauration der Zähne. Das ganze wäre dann keine ambulante Behandlung sondern würde unter Vollnarkose durchgeführt werden. Ich würde hierfür also direkt nichts mitbekommen. Leider fehlt mir hierfür das Geld. Ich bin Arbeitslos trotz vieler Jobinterviews.

Ich werde zwar regelmässig zu Interviews eingeladen, aber sobald ich den Mund aufmache merke ich, dass meine Chancen auf eine Anstellung gegen Null tendieren. Meine Referenzen sind gut. Ich habe studiert, praktisch mit „Summa Cum Laude,, aber Ich weiss es ja selber: die Leute meiden mich aufgrund des heftigen Mundgeruchs. Ich kann das nur verstehen und halte auch bewusst Abstand wenn ich mit Freunden rede. Ich vermeide neue soziale Kontakte weitestgehend, denn es verletzt mich zu sehen, wie Leute auf mich reagieren.

Ein Freund hat mir dazu geraten, das Geld für die Zahn-Ops per Crowdfunding zu sammeln. Ich kann mich mit der Idee aber noch nicht anfreunden. Was, wenn ich am Ende nicht den Mut habe, die Ops durchzuziehen? Ich will das Geld ja nicht unterschlagen.


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