Frühlingserwachen

Ein Sonntagnachmittag im Frühling - wir bleiben wie die meisten Menschen zu Hause. Die Sonne wärmt die Kissen der Stühle auf dem Balkon. Kaffee und selbst gebackener Kuchen stehen bereit. Sogar Schlagsahne. Ein bunter Tulpenstrauß schmückt den kleinen Tisch. In den Blumenkästen stehen die Vergissmeinnicht in voller Pracht. Das perfekte Idyll, ein Glücksgefühl durchströmt meinen Körper. Ich fühle mich sicher, trotz aller Gefahren, die da draußen lauern. Wir haben uns zurückgezogen, aber nicht abgeschottet. Zu zweit lässt sich alles besser ertragen, das ist keine Floskel. Solange wir einander mögen.

Zweimal habe ich schon nach dir gerufen, dann erscheinst du endlich und setzt dich neben mich. Du schenkst Kaffee ein, ich verteile den Kuchen. Ich ergreife deine Hand und drücke sie. Damit will ich dir sagen, dass ich nirgendwo anders sein möchte als hier mit dir. Einen Druck deiner Hand verspüre ich nicht, meinem Blick weichst du aus. Du hältst dir den Kaffeebecher vors Gesicht und runzelst die Stirn. Ich finde, deine Ohren sind röter als sonst.

Jetzt nur nicht fragen: Was ist mit dir? Es einfach geschehen lassen und darauf warten, dass dieser kleine Moment der Ungewissheit vorübergeht. So als ob nichts gewesen wäre. Doch ich kenne mich und weiß, wie sich in meinem Inneren ein winziger Zweifel zum nächsten gesellt und zu einem immer weiter wachsenden Ball des Bedenkens anwächst. Und sich mir bleischwer auf die Seele legt. Übersensibel oder einfach nur ängstlich? Ich kann mir diese Frage selbst nicht beantworten. Da war doch schon gestern dieser Augenblick, als du meiner Umarmung ausgewichen bist. Unter dem Vorwand, dringend etwas vom Boden aufheben zu müssen. Gerade du, der gern Kleidungsstücke und andere Gegenstände auf den Teppich fallen lässt und niemals wegräumst. Dein Handy liegt neuerdings auch nicht mehr herum, sondern steckt immer in deiner Hosentasche.

Noch nie habe ich dich so gierig Kuchen essen sehen. Normalerweise genießt du ihn in kleinen Stückchen, brummst dabei hin und wieder beifällig oder äußerst sogar ein Lob. Jetzt aber stopfst du dir Brocken um Brocken in den Mund, zermalmst Teig und Füllung mit übertriebenen Kaubewegungen. Dabei ist das Backwerk ganz weich und muss nicht durchgekaut werden. Du ziehst deine Hand aus meiner Hand und greifst schon nach dem nächsten Stück. Habe ich dich vielleicht gerade fragend oder skeptisch angeschaut? Jedenfalls verbirgst du erneut dein Gesicht hinter dem Kaffeebecher. Ich höre jeden Schluck in deiner Kehle gluckern. Du hast nicht einmal Milch hinein getan. Mir fehlt dein Augenaufschlag so, dein intensiver Blick.

Und ich vermisse deine lässige Beinhaltung mit übereinander gelegten Füßen. Du hast Straßenschuhe an, und deine Knie sind geschlossen. Ich täusche mich nicht: Du sitzt da wie zum Sprung - zum Absprung? Die wärmenden Sonnenstrahlen nehme ich nicht mehr wahr. Mir ist nur kalt. Entsetzen kriecht mir von meinem Herzen direkt in den Magen und in die Glieder. Arme und Beine werden steif. Ich traue mich nicht, dich noch einmal anzusehen. Mit einer kleinen unverfänglichen Bemerkung könnte ich die Situation für uns beide eventuell erträglicher machen. Doch mir ist bewusst, dass uns kein Wort mehr retten kann.

Da höre ich dich sagen: "Du musst jetzt stark sein. Ich verlasse dich. Heute. Jetzt gleich. Ich habe schon gepackt."


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