06.04.2022
Es war in einer Winternacht, es muss kurz nach 24 Uhr gewesen sein – vor etwa 15 Jahren. Ich war auf dem Nachhauseweg – damals lebte ich noch in der Nähe der Zürcher Langstrasse – und verliess beim Stauffacher die Tram. Ich passierte die Kirche und den Spielplatz. Es war klirrend kalt und die Stadt wie ausgestorben. Keine Menschenseele weit und breit.
Auf den Strassen und Wegen lag etwas Schnee – vor allem aber Eis, das bei jedem meiner Schritte ächzte und knirschte. Kurz vor dem Volkshaus bemerkte ich, dass mir ein kleines Männchen entgegen kam. Fast zwei Köpfe kleiner als ich, die schwarzen Haare mit Gel nach hinten gekämmt. Er trug Schnauz und Spitzbärtchen. Was mich bereits von Weitem irritierte: Das Männchen trug keine Jacke, sondern bloss ein weisses Hemd und ein schwarzes Ledergilet. Die Kälte schien ihm dennoch nichts auszumachen.
Als er näher kam, fiel mir aber noch etwas auf: Seine Schritte waren absolut lautlos. Dieses Männchen schritt so lautlos über das Eis wie Legolas. Legolas in Dämonengestalt. Zu Beginn dachte ich noch, dass mein Gestampfe ihn übertönen würde. Ich wechselte meine Schrittfrequenz – doch ich konnte gehen, wie ich wollte, der Mann war einfach nicht zu hören. Und je näher er mir kam, desto mehr irritierte er mich.
Auch schien er mich komplett zu ignorieren. Seine kalten Augen starrten einfach ins Leere. Auch, als wir einander passierten. Das änderte sich, als ich mich ein paar Meter später nach ihm umdrehte. Das Männchen hatte sich ebenfalls nach mir umgedreht und jetzt sah ich nur noch blanken Hass in seinen Augen. Es blieb bis zum heutigen Zeitpunkt das einzige Mal, dass ich wegen eines anderen «Menschen» fluchtartig die Strassenseite wechselte.